Selbstzweifel und Zeitreisen

26.11.2012 14:30

„Da stehe ich nun, ich armer Thor, und bin so klug als wie zuvor!...“ klingt in meinen Ohren nach, während ich vergeblich in der Warteschlange für das Saalmikrofon herumstehe und, angesichts sich deutlich steigernder Lustlosigkeit, beginne darüber nachzudenken, was all die wunderschön chaotisch bunten Individuen um mich herum eigentlich von diesem (meinem ersten) Programmparteitag erwartet haben.

Was kann man erwarten von einem Parteitag ohne Vorgaben einer Antragsprüfungskommission, der über elf verschiedene Tagesordnungen abzustimmen hat und dem ein Antragspaket von über 1400 Seiten zugrunde liegt?

Einigen wenigen geht es dabei offensichtlich um ihre persönliche Profilierung, den Anderen vornehmlich um die Inhalte der wichtigen Programmanträge, die sich zäh über den Tag ausbreiten und allen mehr oder weniger die Geduld rauben. Zähe Debatten, emotionaler Sprengstoff, stockende Entwicklungsprozesse prägen den Samstag und strapazieren die Nerven aller Anwesenden.

Wer geglaubt hat, eine solche Veranstaltung könnte ähnlich reibungslos und effektiv verlaufen, wie die vorab rundgekungelten Abwinktreffen anderer Parteien, muss hier von vorneherein enttäuscht werden. Aber es geht ja auch um etwas besonderes:

Die basisdemokratische Entwicklung eines politischen Programmes für nicht weniger als 35 000 Individualisten.

Ich persönlich hatte mir das nie einfach vorgestellt und bin, auch wenn mich viele wegen meines „schlechten“ ersten Eindrucks bedauerten, nach wie vor fasziniert von der Komplexität des Prozesses als solchem.

Einfach ginge sicher schnell, einfach wäre bequemer und entspannter, aber könnte das einer solch bunten, hierarchiearmen Schwarmintelligenz auch nur annähernd gerecht werden?

Die Arbeit vieler Arbeitsgruppen muss gewürdigt werden, ohne den Blick fürs Detail zu verlieren, denn ärgerliche Formulierungen stören in vielen Fällen die guten Ansätze.

Nichts ist perfekt oder fertig und man hätte es doch so gerne, wäre so gerne schon weiter im Prozess, denn der Zeitdruck der bevorstehenden Wahlen liegt vielen im Magen.

Erbarmungslos wirkt trotz alledem die Komplexität der Aufgaben.

Freiheit und Gerechtigkeit stehen ganz oben in der Prioritätenliste und der Schulterschluss dieser Prinzipien erfordert einen Grad der

Kooperation und Kommunikation, der nur als Herausforderung einer neuen Größenordnung betrachtet werden kann.

Teilerfolge, Kompromisse und Eingeständnisse sind dabei nicht zu vermeiden und reichen gleichzeitig nicht aus, um die zahlreichen hungrigen Geister zufrieden zu stellen.

Schuldige werden gesucht, ansteckender Pessimismus breitet sich aus und die Selbstzweifel des Schwarms minimieren die notwendige Geduld und Toleranz.

Nur blass schimmert der piratige Humor des Zeitreisenantrags durch diese Zweifelei hindurch und es macht mich ein wenig traurig, dass dieser leuchtend bunte Haufen von Individualisten verlernt zu haben scheint, seine eigene Schönheit und Stärke zu sehen.

Perfektion und Universalität mögen ja ehrenhafte Ansprüche sein, aber liegen hier wirklich die potentiellen Stärken einer Gemeinschaft, die ausgezogen ist, der etablierten Parteienlandschaft einen Spiegel vorzuhalten?

Die Panik um die Sichtbarkeit von Schwächen trübt den Blick auf das innewohnende Potential des Chaotischen und Unperfekten.

Ordnung ist steif und fest - Chaos ist Entwicklung.

Wer wären wir denn, wenn wir ordentlich und perfekt ein Wahlprogramm abliefern würden, dass die Universallösung in allen Bereichen beinhaltet und allen Ansprüchen gerecht wird?

Wir wären der Lügner, der die Wahrheit erfunden hat, wir wären nicht anders als die Dogmatiker der Vergangenheit, wir wären... keine Piraten mehr.

Auch wenn das, noch zu füllende, inhaltliche Vakuum nun im Nachhinein keine große Befriedigung einkehren lässt, so möchte ich doch an all die schönen, bunten Individuen appellieren, sich davon nicht bremsen zu lassen, sondern zu ihrem Ansatz zu stehen, denn Hierarchie ist keine Alternative und komplexe Entwicklungsprozesse zeichnen sich nicht durch ihre Geschwindigkeit sondern durch ihre langfristige Wirksamkeit aus.

Wenn wir uns diese Zeit nicht geben, muss das Ergebnis leiden, wie ja deutlich an einigen Punkten zu sehen war, und der aufkommende Pessimismus wirkt nur der erforderlichen Geduld und Gelassenheit entgegen, die wir brauchen um unseren steinigen Weg fortsetzen zu können.

Der nächste Programmparteitag kommt bestimmt und es bietet sich an, aus den Fehlern des Vergangenen zu lernen, um die Effektivität unserer Entscheidungsprozesse zu steigern.

Formale Probleme sind dazu da, um sie im ständigen Weiterentwicklungsprozess zu beseitigen und es gibt keinen Grund hierbei aufzugeben. „Trial und Error“ ist nun einmal auch ein Teil dieses Prozesses und wenn nicht wir diese neuen demokratischen Strukturen erproben und verbessern, wird es vielleicht vorerst niemand tun und das wäre nun wirklich nicht akzeptabel!!!

Wir sollten zu uns selbst und unserer Nichtperfektion stehen, denn in ihr liegt das Potential dazu, unserer globalisierenden Menschheit, über den Dogmatismus der Aufklärung hinweg, den Weg in eine postmoderne Informationsgesellschaft zu ermöglichen.

 

Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ Heinz von Foerster (Buchtipp)

Nobody is perfect“ (Common Sense)

 

Deswegen: Weiter so! Ihr seid trotzdem wundervoll! <3! Ahoi!